
Stell dir vor, es ist Heilig Abend 2004 und du sitzt in einem Überlandbus, der auf der Nordinsel von Neuseeland gerade zwischen Coromandel und Tauranga unterwegs ist. Du bist gerade nicht sonderlich gut drauf. Seit etwa drei Wochen bist du auf Reisen – in diesem Land, allein. Eigentlich bist du sechs Monate hier, weil du als Gastwissenschaftler hier deine Diplomarbeit machen sollst. Ein Monat ist zum Reisen fest eingeplant. Im neuen Jahr soll es mit der Forschung so richtig losgehen. Die Südinsel hast du bereits als Backpacker bereist, allerdings war diese Reise nicht so verlaufen wie geplant. Du bist die ganze Zeit allein und hast seit Tagen kein Wort gesprochen. Jetzt sitzt du im Bus und es ist dein erstes Weihnachten ohne deine Familie. Du schaust aus dem Fenster, als der Bus gerade die Vororte von Tauraga passiert. Auf den Schildern der Geschäfte steht Judäa und Bethlehem. Ein Zeichen?

Als du in der Jugendherberge ankommst, versuchst du über ein öffentliches Telefon und eine Telefonkarte deine Familie in Deutschland zu erreichen. Aber das neuseeländische Telefonnetz ist zusammengebrochen, wie jedes Jahr an Weihnachten, da auf ca. 6 Mio. Einwohner gerade 20.000 Mio. Touristen kommen, die gerade alle versuchen zuhause anzurufen.
Ich würde so gern in einen Gottesdienst gehen. Das gehört für mich Heilig Abend einfach mit dazu. Aber nicht für die Neuseeländer. Als ich die Dame an der Rezeption des Hostels anspreche, erfahre ich, dass das hier nicht üblich ist. Gefeiert wird morgen am 1. Feiertag. Ich setze mich mit einer Tütensuppe in den Aufenthaltsraum. Sonst habe ich nichts mehr zu essen.

Morgen will ich zur Feier des Tages in einem Café frühstücken und dann eine Wanderung zum Mt. Manganui machen. Während ich die letzten Löffel verschlinge, kommt die Dame von der Rezeption mit einer Zeitung in der Hand zu mir. Sie hat einen Gottesdienst gefunden. Einen Nachtgottesdienst in einer Baptistengemeinde, nur 20 min zu Fuß den Berg hoch. Ich bin ihr sehr dankbar und mache ich mich gegen 21:30 Uhr auf den Weg.

Ich stehe zwar an der richtigen Adresse, aber eine Kirche ist das hier nicht. Das Gebäude ist ein Rundbau mit viel Glas und Stahl. Ich hatte ein Steinhaus mit Turm erwartet. Ich bin zu früh und drinnen sehe ich Leute, der irgendwas vorbereiten. Mein Blick geht nach oben. Ich sehe den Vollmond, aber der steht leider auf dem Kopf. Ebenso der Orion. Ich bin allein, auf der anderen Seite der Erde, es ist Sommer, ich erreiche meine Familie nicht und jetzt steht auch der Mond auf dem Kopf. In dem Moment bin ich der einsamste Backpacker der Welt.
Dann öffnen sich die Türen der Kirche. Ich bin die erste und werde von einer ganzen Armada ehrenamtlicher Helfer begrüßt. Tabletts mit Keksen werden herumgereicht und ich esse, so viel ich kann. Ich habe auf meiner Reise kaum Geld für Essen, daher bin ich immer hungrig und nehme alles, was ich gratis angeboten bekomme, gern an. Als nächstes bekomme ich einen Zettel in die Hand gedrückt. Darauf sind Liedtexte – natürlich alle in Englisch, ich (er)kenne kein einziges Weihnachtslied. Als die ersten Töne des Klaviers erklingen, kommt mir das zwar bekannt vor, aber ich kann den passenden Text auf dem Zettel so schnell nicht finden. Während der ersten Strophe setzen nach und nach die Besucher ein, denn das Foyer ist mittlerweile gut gefüllt. Beim Refrain erkenne ich es, denn der wird nicht in englisch gesungen, sondern wir bei uns in Latein: Gloria in excelsis deo. Und auf einmal ist für mich Weihnachten. Vor lauter erlösenden Tränen kann ich kaum noch mitsingen.
Ab da verwischt meine Erinnerung an diesen ganz besonderen Heiligen Abend. Irgendwann gehen die Türen zum Saal auf und ich lasse mich in gemütliche Kinosessel sinken. Die Kirche ist wirklich eher ein Theatersaal als das, was ich unter Kirche kenne. Der Gottesdienst findet auf einer großen Bühne statt. Es gibt eine Aufführung, viele, sehr moderne Lieder, deren Text über einen Beamer projiziert werden. So habe ich Kirche noch nie erlebt. Und ich weiß jetzt, wie ich aus meiner Einsamkeit herauskomme. Die begleitete mich nämlich nicht erst seit meiner Reise, sondern seit meiner Ankunft in diesem Land. Wenn ich zurück an der Uni bin, werde ich mir eine Kirche suchen.
Nach dem Gottesdienst werde ich von zig Leute angesprochen. Man kennt sich untereinander, aber mich hat noch nie jemand gesehen. Einladungen werden ausgesprochen, die ich dann aber doch alle ablehne. Es ist mittlerweile Mitternacht. Am Ende werde ich von einer Familie zurück zum Hostel gefahren und zu einem Weihnachtsessen für den morgigen Tag eingeladen. Aber das ist eine andere Geschichte. Die soll später erzählt werden.
Eigentlich habe ich unter dieser Überschrift erzählen wollen, welchen tollen Menschen ich auf meinen Wanderungen begegnet bin. Eine Wanderung mag heute fehlen, aber ich dehne das Thema jetzt einfach mal über meine Reisen im Allgemeinen aus. Wenn ich über den ersten Feiertag schreiben, kommen aber sogar zwei Wanderungen in meiner Erzählung vor.
Die Menschen in Neuseeland sind herzlich und offen, freundlich und selbstlos. Ohne diese wäre eine sehr schwere Zeit in meinem Leben noch viel schwerer gewesen. Und deshalb wiederhole ich hier ein Zitat, das ebenfalls mit Neuseeland verbunden ist, wenn auch auf andere Art und Weise:
Es sind die Menschen, in die wir unsere Hoffnung setzen müssen.
Gandalf – aus „Der Herr der Ringe“
Fröhliche Weihnachten!